Von großen Vögeln und Einhörnern

„Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin.“

 

Diese Worte waren mit Mitte 20 ein zartes Flüstern in meinem Herzen, kaum hörbar blieben sie dort viele Jahre verschlossen. Ich biss mich durch mein Lehramtsstudium. Na ja eigentlich war es eher ein zähes Dauerkauen, ein unangenehmes Schlucken und Wiederhochwürgen. Ich habe immer gezeichnet, gebastelt und gebaut, wusste aber nicht, was ich außer den Beruf des Kunstlehrers zu ergreifen, „Vernünftiges“ damit anfangen kann. Ich habe zwar gespürt, dass ich mit dem Lehramt einen wichtigen Teil in mir nicht ausleben kann, aber der strenge Kritiker in mir drückte dieses Gefühl weg, ließ mich das Studium beenden, ein Referendariat absolvieren und einige Jahre im Berliner Schuldienst arbeiten. 

 

Mit 33 Jahren nahm ich meine erste Auszeit. Ich kündigte meine sehr gut bezahlte, fristlose Stelle im öffentlichen Dienst, ohne Idee, wie es weitergehen sollte. Schön blöd, geradezu irre aus der Sicht älterer Generationen. Und auch mein innerer Kritiker zeigte mir einen Vogel - so einen richtig großen, einen Storch oder einen Weißkopfadler. Ich nutzte die Arbeitslosigkeit, zunächst um gaaaaanz viel zu jammern. „Mimimiii, warum habe nicht..?? Buhuhuu, jetzt bin ich schon so alt!! Grrgrgrrrr, ich hasse mein Leben...!“ Wer kennt sie nicht, diese Gedanken? Glücklicherweise besuchte ich neben all dem Gejammere auch viele Volkshochschulkurse im Bereich Kunst. In dem Kurs „Bilderbücher gestalten für Kinder“ machte es dann „pling“. Ich fand den ersten Trampelpfad zur Erfüllung meines alten Herzenswunsches. Ich lernte ein wenig Handwerk zum Entwickeln von Geschichten und Figuren. Henri, die tanzende Waldmaus - damals noch ein Lurch - wurde hier geboren. Und ganz besonders wertvoll: Ich lernte mein wunderbares Einhorn kennen, ein Zauberwesen von einem anderen Stern, mit dem Optimismus und der Herzenswärme, die ich so dringend brauchte. Wir waren in einer ähnlichen Lebenssituation: Ü30 aber im Herzen 12, dead sexy aber Single, talentiert aber ohne Plan, in der hippen Stadt voller Verführungen aber ohne Geld. Eine tiefe Freundschaft entstand, die bis heute anhält. Einmal den Fokus eindeutig justiert, ergaben sich nun auch andere Möglichkeiten, als Illustratorin Erfahrungen zu sammeln. Das Arbeitsamt finanzierte mir eine Fortbildung in allen wichtigen Computer-Programmen. Ich illustrierte für eine Bekannte mein erstes Kinderbuch - inklusive Veröffentlichung, belegte weitere VHS-Kurse, rüstete mein technisches Zubehör auf usw. Es ging voran.

 

Doch nach einem Jahr bekam ich kein Arbeitslosengeld mehr - kein Netz, kein doppelter Boden. Also ging ich zurück in die Schule. „Hä?“ Ja, und ich war ganz fix wieder drin im Hamsterrad. Ich bildete mich nicht mehr fort, malte nicht mehr und wurde wieder schrecklich jammerich. „Häää?!“ Ich kramte die alten Glaubenssätze hervor: „Das Leben besteht aus Kompromissen. Mit Kunst verdient man kein Geld. Vielleicht wirst du ja doch noch mit dem vernünftigen Beruf glücklich.“ „Hääääää??!!“ Ja, so ist das, wenn man nicht an sich glaubt. Bereits nach wenigen Monaten an einer Brennpunktschule murmelte es in meinem Kopf hin und her: „Hinschmeißen! ... Nee, Zähne zusammenbeißen! ... Ich kann nicht mehr aufstehen, alles fühlt sich so schwer an.  .... Ich wandere aus! ... Ich suche mir einen anderen Job, an der Kinokasse vielleicht? ...“ Alles war grau.

 

Und dann schlug das Schicksal zu: „positiv“, zeigte der Schwangerschaftstest. „Oh....“ Es wurde still in meinem Kopf, meine Seele wurde leichter, mein Herz ganz warm. Das schönste, größte, beeindruckendste Wunder des Lebens relativierte alles auf einen Schlag und verschaffte mir meine zweite Auszeit. Das Flüstern kribbelte wieder durch meinen Körper, diesmal begleitet von immer kräftiger werdenden Tritten. Einen Monat vor der Niederkunft begann ich den „Erfolgreich Illustrator“- Onlinekurs von Johanna Fritz (unbezahlte Werbung). Ich könnte mein Einhorn immer noch dafür zu Boden knutschen, dass es mir mit seinem Huf zärtlich, aber bestimmt in den Popo trat, dieses Webinar zu kaufen. Waren die Kurse der Volkshochschule Trampelpfade zum großen Ziel Illustratorin zu werden, befand ich mich jetzt auf einer gut ausgebauten Autobahn, inklusive schickem Dienstwagen und Pannenhilfe. 

 

Als mein schlafloses Bibi zur Welt kam, brauchte es meine volle Aufmerksamkeit und Hingabe. Es wollte rund um die Uhr bei mir, an mir, auf mir, mit mir sein. Keine Frage, das sollte es auch bekommen. Ich hatte keine Zeit mehr, um an meiner Selbstständigkeit zu arbeiten oder mir in Ruhe die Haare zu waschen. Das waren oft zermürbende Monate, die meinen Wunsch, mich endlich künstlerisch zu entfalten, in mir zum Schreien brachten. Doch ein Gutes hatte diese Phase. Der kalte Entzug von der Freiheit, zu tun, was immer ich will, wirkte wie ein kreativer Motor. Ich sprühte plötzlich vor Ideen, Mut und unbedingten Willen, mich als Illustratorin selbständig zu machen. Seit ein paar Wochen schläft Bibi nun abends allein und an den Wochenenden ist es immer öfter mit den Jungs unterwegs. Sogar der liebe Kita-Gott ist auf meiner Seite. Er hat verfügt, dass ich ein weiteres Jahr zu Hause bleiben darf. Ich nutze jede freie Minute, um an meinem Portfolio und am Marketing zu arbeiten. Und was machen die großen Vögel? Die habe ich vertrieben. Ich lasse nur noch Einhörner in mein Leben. Das Flüstern springt übrigens immer öfter auf meine Zungenspitze. Dann spreche ich es auch mal leise aus. Es ist mir sogar schon eins, zwei Male vor anderen rausgerutscht.

 

„Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin. Ich bin Illustratorin.“